Kerstin Wüstenhöfer-Loges "Face the Facts"

Dr.Holly Todd: Laudatio zur Ausstellung - Malerei - am 11.5.2012

Ich freue mich heute wieder bei der Eröffnung einer Kunstausstellung im Rathaus zu sprechen. Bisher konnte ich sowohl Künstler aus der Ferne den Hemmingern näher bringen als auch neue künstlerischen Seiten von wohlbekannten und geschätzten Hemmingern vorstellen. Dieses Mal haben wir es mit einer Künstlerin zu tun, die in der Kunstmetropole Berlin aktiv ist, die aber keine Fremde ist. Kerstin Wüstenhöfer-Loges ist nämlich in Hemmingen aufgewachsen. Und sie hat eine besondere Verbindung an diesem Ausstellungsort, dem Hemminger Rathaus, da ihr Großvater, Friedrich Rodehorst hier in Hemmingen Gemeindedirektor war. So können wir uns heute über die Gegenüberstellung des offiziellen Rathaus-Porträts Rodehorsts dem seiner Enkelin freuen.

Auch diejenige im Saal, die Kerstin-Wüstenhöfer-Loges kennen, möchten bestimmt noch mehr darüber wissen, was mit ihr passiert ist, seit dem sie das Abitur an der hannoverschen Wilhelm-Raabe-Schule gemacht hat. Sie hat Kunst- und Werkpädagogik, Germanistik und Bildende Kunst in Freiburg, Braunschweig und Frankfurt am Main studiert, hat auch in München gewohnt und lebt jetzt bei Berlin. Wenn man ihr Lebenslauf liest, erfährt man von einer unermüdlichen tätigen Frau, so vielseitig, dass sie fast widersprüchlich ist.

Als engagierte gymnasiale Kunstlehrerin hat sie ambitionierte Projekte mit ihren Schülern unternommen, die in der Presse Resonanz hatten, z.B. eine riesige Stoffschleife genäht und um die Schule und an der Schuleingang gebunden, um anzuregen, dass Bildung nicht nur als Pflicht sondern auch als Geschenk gesehen wird. Anderseits ist sie aktiv in der Berliner Kunstszene. Sie gehört zur sogenannten "Starke Künstlern", die durch die Stiftung Starke gefördert werden und regelmäßig im Grunewalder Löwenpalais der Stiftung ausstellen. überhaupt würden viele Künstler davon träumen, so viel auszustellen, wie Kerstin Wüstenhöfer-Loges es tut. Diese hier ist ihre sechste Einzelausstellung seit Anfang 2011.

Morgen um 12 Uhr Mittag ist schon ihre nächste Eröffnung in Berlin. Hier stellt die Künstlerin Fotoporträts mit drei anderen Künstlern aus, die Betreuer von Behinderten über mehrere Wochen begleitet und fotografiert haben. Die Wanderausstellung beginnt morgen in Berlin-Kreuzberg. Derartiges soziales Engagement jenseits der Lehrtätigkeit ist nichts Neues für die Künstlerin, die unter anderem den Jahresbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands mit Fotoarbeiten gestaltet hat.

Die Fotografie, die Kerstin Wüstenhöfer-Loges neben der Malerei in Braunschweig studiert hat und die einen großen Bereich ihrer Kunst darstellt, weist auch Widersprüche auf. Sie schafft Fotoporträts prominenter Menschen, denen sie durch ihre künstlerische und soziale Tätigkeit begegnet, z.B. des ehemaligen Bundespräsidenten Köhler und seiner Frau, des Designers Wolfgang Joop, der Niedersächsischen Ministerin für Wissenschaft und Kultur, Prof. Johanna Wanka, des Dirigenten der Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle und vieler anderen bekannten Musiker, Künstler, Schauspieler, brandenburgischen Politiker und Berliner Galeristen. Und gleichseitig macht sie wunderschöne stille Fotos der idyllischen brandenburgischen Seelandschaft ihres Wohnorts jenseits des Stadtrands der Großstadt.

Man könnte meinen, dass Kerstin Wüstenhöfer-Loges sich tüchtig vermarktet, aber das ist nicht das vordringliche Interesse der Künstlerin. Sie kommt in Kontakt mit vielen Menschen und daraus wachsen oft interessante Gelegenheiten, die sie wahrnimmt. Sie hat wohl eine Gabe, auch in kurzen Begegnungen bedeutungsvolle Dialoge entstehen zu lassen. Sie erzählt, dass eine solche besondere, intensive Begegnung der Anlass jedes von ihren Fotoporträts sei, auch von den Prominenten. Die Idee zu dieser Hemminger Ausstellung entstand aus einer Begegnung mit einer Schulfreundin. Darin hat die Künstlerin eine Möglichkeit gesehen, Autobiographisches aufzuarbeiten und zu würdigen.

Und das hat sie nun getan. Der Titel dieser Ausstellung ist "Face the Facts", was bedeutet "den Tatsachen ins Auge sehen". Das Wort Face heißt natürlich auch Gesicht und es gibt viele Gesichter hier zu sehen, allen voran das eigene, manchmal sehr nah und fordernd im großen Format. Oder wie hier im Ratssaal am hinteren Wand klein und intim das Titelbild der Ausstellung (2012), das einen sehr persönlichen Moment von Akzeptanz mit einem Hauch Trauer wiedergibt. Wir sehen auch das Gesicht der Künstlerin im großen mehrfigurigen Bild an der hinteren Wand, das Begegnung (2000) heißt. Ich habe gerade erzählt, wie wichtig die Begegnung in ihrem Leben ist und die menschliche Begegnung ist auch ein Hauptthema ihrer Kunst. Wie hier umfasst das Thema öfter eine komplexe intuitive Mischung aus vergangenen und aktuellen Erlebnissen und Gefühlen. Hier scheint die Künstlerin, sich wegdrehend von zwei anderen Menschen, eine Begegnung hinter sich zu lassen. Eine männliche Figur steht gerade hinter ihr links im Profil, eine wenig plastische und greifbare Haltung, die bedeuten könnte, dass diese Person bei ihr schematische oder hohl in Erinnerung bleibt. Der rothaarige Kopf einer zweiten wohl weiblichen Figur, kehrt den Rücken zur Szene. Sie ist vielleicht im Vergangenen hängen geblieben, könnte aber gleichzeitig ein Spiegelbild der Künstlerin sein. Jede kann und wird das Bild für sich auf anderer Weise interpretieren und darüber freut sich die Künstlerin. Sie sagt, sie ist immer wieder von den Dialogen, die vor ihren Bildern entstehen, erstaunt. Das, was man aus einer Begegnung von sich weiter gibt und von anderen mitnimmt, fasziniert die Künstlerin. Die etwas dunklere und härtere Variant der Begegnung erinnert an die Werke Edvard Munchs, den Kerstin Wüstenhöfer-Loges verehrt, der auch starke und schwierige menschliche Gefühle thematisiert hat.

Viel heller,durchlässiger und abstrakter ist das zweite große Bild im Saal. Es ist ein neueres Bild und daran kann man gut die in letzter Zeit zunehmend intuitive Vorgehensweise der Künstlerin erkennen. Was mit blutartigen senkrecht laufenden roten Flecken an den linken Rand des Bildes anfing, zeigt u.a. auch ein kleines Inszenierungsfoto der Künstlerin. Durch das gemalte gewölbte heiligenscheinartige öffnung um diese Figur wird sie zur Gottesmutter. Dann wurde das Kreuz hinzu gefügt, das auch dem Bild als Unterteilung den Anschein eines Fensters gibt. über dem Ganzen schwebt eine Figur, die beim ersten Blick die symbolische Taube, der Heilige Geist zu sein scheint. Bemalt ist die ganze Bildfläche mit einem raumlosen dennoch taktilen Schleier vom intensiven Blau, nach Goethes Farblehre eine sakrale Farbe, die auch Ruhe und Frieden ausstrahlt. Beim näheren Betrachten erkennt man den kräftigen Schnabel eines Greifvogels. Es ist ein Beispiel vom sogenannten Schutztier, das oft in den Bildern Kerstin Wüstenhöfer-Loges vorkommt, ein Wesen, das der Künstlerin in zärtlichen verletzlichen Momenten Schutz bietet. Das Schutztier kommt zum Beispiel vor, wenn die Künstlerin sich schlafend und nackt, klein und wehrlos mitten im Bildfeld malt. Hier ist es ein Vogel, anderswo ein schakalartiges Wesen. Das starke, schützende Tier wird aber auch in letzter Zeit mit dem zarten Menschen integriert und erscheint auf Bildern als selbstschützendes Mischwesen, halb Vogel, halb Mensch (Feuervogel, 2012). Das Traumartige an dieser Figur sowie der assoziative kreative Prozess überhaupt stehen dem Surrealismus nahe. Das hiesige Bild heißt Phönix (2009) und hat mit der Bearbeitung von Krisen und kreativer Wiederauferstehung zu tun. Und tatsächlich ist eine neue Leichtigkeit und Durchlässigkeit in den Bildern von Kerstin Wüstenhöfer-Loges zu erkennen, wenn sie die an der Realität stark gebundene Malweise hinter sich lässt.

Zum Schluss möchte ich von den beiden Porträts der Großeltern sprechen (2009). In der Kindheit und Jugend stand die Malerin den Abgebildeten, Alma und Friedrich Rodehorst sehr nah. Aber sie haben auch eine wichtige Rolle in ihrer eben beschriebenen künstlerischen Wandlung gespielt. Die beiden Bildnisse sind nach dem Tod der Gemalten entstanden und haben viel mit der Erinnerung zu tun. Wenn man sie näher betrachtet, sieht man, dass die Bilder zuerst mit Schriften "grundiert" wurde, das heißt mit Fragmenten von Briefen, Tagebuchauszügen, Fotokopien von testamentarischen Verfügungen oder ähnlichen Dokumenten beklebt. Die Künstlerin hat auch Germanistik studiert und ihre literarische Seite kommt in den neuen Bildern stärker als bisher hervor. Hier und da kann man ein paar zum Denken anregende Wortfetzen erkennen, aber sie sind meist übermalt und teilweise auf dem Kopf gestellt und generell schwer zu lesen. Im Bild der Großmutter ist unten in der Ecke auch ein übermaltes Foto ihres Hauses in Hemmingen eingearbeitet. Darüber sind die Gesichtszüge klar und akademisch nach Fotos gezeichnet. Intensive Farbe ist in abstrakten bewegten Fleckmustern unabhängig von den gezeichneten Umrissen angebracht. Während man noch vage an den in Worten festgehaltenen komplizierten Tatsachen Rodehorsts Existenz oder der Beziehung zur Enkelin erinnert wird, schweben die Gesichter, ja die Personen selber klar und leuchtend hervor.

In den beiden Bildern wie sonst in der Ausstellung merkt man, dass das Farbgefühl der Künstlerin grob Goethes schon angesprochene Farblehre entspricht. Die Großmutter Alma Rodehorst galt als kommunikative und fleißige Frau, die die Familie immer zupackend unterstützte. Sie wird überwiegend in der extrovertierten Farbe Gelb gemalt mit kleinen temperamentvollen Akzenten der warmblutigen Rot. Friedrich Rodehorst dagegen hat die Familie wie die Gemeinde ruhig geordnet. Er wird entsprechend in einem intensiven Blau gemalt, die für Goethe, wie wir schon gehört haben, die ruhige, geistige Farbe schlechthin war. Im Moment ist die Künstlerin sehr mit einer Serie beschäftigt, bei der der Arbeitsprozess hierzu sehr ähnlich ist. Diese neuen Bilder sind überwiegend rot, die Farbe von Wärme, Liebe und Wut, mit der sie sich selber wiederholt identifiziert.

Als Kerstin Wüstenhöfer-Loges diese Ausstellung im Rathaus aufgebaut hat, musste sie immer überlegen, was die Großeltern gesagt hätten, ob dieses oder jenes Bild gehängt werden sollte und wohin. Alma und Friedrich Rodehorst haben ihrer Enkelin als Kind und Jugendliche liebevoll unterstützt und gefördert. Wie wichtig die beiden noch lange nach dem Tod für ihren persönlichen sowie malerischen Werdegang und speziell für die Verwandlung und Aufbruch der letzten Jahren waren, sieht man im Titel des Porträtpaars: Porträts von A... und O. Dass die Künstlerin die eigenen Töchter, die heute anwesend sind, und uns Hemminger an dieser für sie wichtigen Etappe ihrer Entwicklung teilnehmen lässt, freut uns sehr.

Dr. Holly Todd, Ph.D.
Kunsthistorikerin
Hemmingen